Icklack

Düsseldorf, 1990 – Ein Zufluchtsort für obdachlose Frauen

1990 fotografierte ich im Haus Icklack, einer Unterkunft für obdachlose Frauen in Düsseldorf. Als ich die Reportage „Soziale Randgruppe“ fotografierte, war mir nicht bewusst, wie mich diese Begegnungen berühren würden.

Meine Reportage zeigte Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen auf der Straße gelandet waren – Armut, Gewalt, Krankheit, gesellschaftliche Kälte. Ich sah Frauen, die sich an den dünnsten Fäden festklammerten, und eine Gesellschaft, die oft lieber wegschaut.

Jede hatte eine Geschichte, in der Icklack fanden sie für einen Moment Ruhe, Gemeinschaft und manchmal auch eine neue Perspektive.

Diese Bilder sind für mich nicht nur Dokumente einer vergangenen Zeit. Sie sind eine Mahnung, dass Obdachlosigkeit nicht einfach „passiert“, sondern eine Folge sozialer Entscheidungen ist. Und sie erinnern mich an die Verantwortung, hinzusehen und die Geschichten dieser Frauen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Der Träger dieses Hauses ist die Diakonie.

Damals habe ich auch einen Text dazu geschrieben:

Die Icklack ist eine Einrichtung der Diakonie. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten habe ich mich für ein erstes Treffen mit Helma, der Leiterin dieses Hauses, verabredet. Die „Icklack“, sowohl Name als auch Adresse, ist eine Seitenstraße im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Das Haus macht von außen einen fast klinisch reinen Eindruck. Ich betrete das Haus und fühle mich verunsichert, fühle mich unwohl angesichts der sauber aufgehängten Plakate und der vor sich hin blühenden Grünpflanzen. Die niedrigen Decken des Neubaus lassen mich meinen Kopf einziehen.

Ist die „Icklack“ wirklich eine Zufluchtsstätte, ein Zuhause? Ich treffe Helma in ihrem Büro, dem organisatorischen Herz der „Icklack“. Formulare und Gesetze, sowie unzähligen Akten sehe ich zuerst.

Wir verabreden uns für eine Gruppensitzung der Frauen von der ersten Etage, damit diese mich kennenlernen. Die Gruppensitzung findet in der relativ großen Küche dieser Etage statt. Die Frauen sitzen um den Tisch herum, sind neugierig und hören interessiert zu. Zwei Frauen, Carola und Roswitha, entscheiden sofort, dass sie nichts mit mir zu tun haben möchten, auf keinen Fall darf ich sie fotografieren.

Wieder in meinem Zuhause angekommen bin ich sehr betroffen, bestürzt, verwirrt. Die meisten Frauen in der Icklack sind jünger als ich. In mir entsteht ein sonderbares Gefühl. Es mündet darin, dass ich eine Woche lang ziemlich aggressiv meine Fingernägel abkaue. Die Schwächen, die ich an den Frauen beobachte, sind auch meine: Ich habe auch schon versucht, meine Probleme einfach wegzuschlafen, oder durch Alkohol zu unterdrücken. Auch ich fühle mich an manchen Tagen ungeliebt, hänge manchmal nur lethargisch vor dem Fernseher. Ich kenne Selbstzweifel, bin oft unzufrieden oder habe das Gefühl: Ich schaffe nichts. Doch angesichts der obdachlosen Frauen in der „Icklack“ frage ich mich, warum ist es mir gelungen, halbwegs normal zu leben und ihnen nicht? Warum scheine ich an den Aufgaben zu wachsen, die mein Leben mir stellt? Was ist bei ihnen anders gelaufen als bei mir?

Ich erlebe, dass sie sich, aufgrund meines ehrlichen Interesses an ihnen, verändern, aufblühen. Doch wenn ich mich anderen Frauen zuwende oder mich zurückziehe, werden sie schroff und ablehnend. Carola ruft mich zu Hause an und wirft mir Unzuverlässigkeit vor. Ich hätte doch versprochen, wiederzukommen. Natürlich habe ich weitere Besuche zugesagt, doch eine konkrete Terminabsprache gab es nicht. Können diese Frauen akzeptieren, dass mein Interesse an ihnen zeitlich begrenzt sein wird? Ich war ein Ereignis, das ihren Alltag veränderte. Es ist schwer für mich, zu begreifen und zu akzeptieren, dass ich ihre Situation nicht verändern kann, es nicht meine Aufgabe oder meine Verantwortlichkeit ist. Ich bin nur die Fotografin, die an einem Projekt arbeitet, das „Soziale Randgruppe“ heißt.

Wenn ich heute auf meine Fotos aus dem Jahr 1990 blicke, auf die Serie, die ich in der Icklack, einer Einrichtung für obdachlose Frauen in Düsseldorf, fotografiert habe, dann sehe ich Bilder, die ehrlich sind. Sie sind roh, dokumentarisch, in Schwarz-Weiß. Sie sind nicht schön im klassischen Sinn. Und doch, oder gerade deshalb, zeigen sie eine Wahrheit. Die Gesichter der Frauen, ihre Müdigkeit, ihre Verletzlichkeit, ihre Geschichte, die sich in ihren Haltungen, Blicken, in den Schatten ihrer Gesichtszüge abzeichnet.
Auf der Homepage der Icklack sehe ich andere Fotos: fröhliche, bunte Bilder. Sie zeigen Frauen, die lachen und die Hoffnung ausstrahlen. Diese Bilder haben einen klaren Zweck: Sie sollen einladen, sollen Empowerment vermitteln. Sie sollen zeigen, dass hier ein Ort der Möglichkeit ist, eine Brücke in ein anderes Leben. Und genau dieser Unterschied wirft für mich eine tiefergehende Frage auf:

Was ist die eigentliche Aufgabe der Fotografie?

Ist es ihre Aufgabe, die Wahrheit zu zeigen – und wenn ja, wessen Wahrheit? Oder hat sie die Aufgabe, Hoffnung zu schaffen?

Melden Sie sich hier zu meinem Newsletter an und bleiben Sie informiert.

You have Successfully Subscribed!